BGH: Beschluss vom 03.05.2017, Az. XII ZB 415/16

Entscheidungserhebliche Norm: § 1610 Abs. 2 BGB

Hintergrund

Die 1984 geborene nichteheliche Tochter des Antragsgegners schloss im Jahr 2004 ihr Abitur mit dem Schnitt 2,3 ab. Darauf bewarb sie sich um einen Studienplatz im Fach Medizin. Nachdem ihr kein Platz zugewiesen wurde, nahm sie eine Lehre als anästhesiethechnische Assistentin auf. 2008 beendete sie die Lehre erfolgreich (1,0). Im Anschluss arbeitete sie in diesem Beruf. Schließlich wurde ihr zum Wintersemester 2010/ 2011 ein Studienplatz zugewiesen. Sie studiert nunmehr Medizin.

Das antragsstellende Land gewährte ihr Vorausleistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Das Studierendenwerk forderte im September 2011 den Antragsgegner, den Vater, auf sein Einkommen offenzulegen.

Der Antragsgegner erfuhr erst durch diese Aufforderung vom Studium seiner Tochter. Er hatte 2004 postalisch seiner Tochter mitgeteilt, er gehe vom Abschluss der Schulausbildung aus und davon, keinen Unterhalt mehr zahlen zu müssen. In einem anderen Fall solle seine Tochter sich bei ihm melden. Eine Reaktion unterblieb und er beendete die Unterhaltszahlungen.

Das Land nahm den Antragsgegner aus übergegangenem Recht (§ 37 Abs. 1 S. 1 BAföG) auf Unterhaltszahlung in Anspruch. Das Landgericht wies den Antrag ab. Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde zurück. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgte das Land sein Anliegen weiter.

Entscheidung

Der BGH wies die Rechtsbeschwerde zurück. Er beschloss, dass

  • die Leistung von Ausbildungsunterhalt für einen Elternteil unzumutbar sein kann, wenn das Kind bei Ausbildungsbeginn das 25. Lebensjahr bereits überschritten und den Elternteil nicht über seine Ausbildungspläne informiert hat, sodass dieser nicht mehr mit einem Ausbildungsunterhaltsanspruch rechnen musste.

Weiter führte der BGH erwägungserhebliche Punkte zum Ausbildungsunterhalt in sogenannten Abitur-Lehre-Studium-Fällen aus.

Begründung

Nach § 1610 Abs. 2 BGB sind die Kosten einer angemessenen Berufsvorbildung vom Unterhalt erfasst.

Geschuldet werde demnach eine Berufsausbildung, die den Begabungen, Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtlichen Neigungen des Kindes entspreche. Dazu müsse er sich innerhalb der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern halten. Sei eine solche Ausbildung bezahlt worden, müsse eine weitere grundsätzlich nicht finanziert werden. Ausnahmen könnten aber gesundheitliche und andere unvorhersehbare Gründe darstellen. Weiter sei eine weitere Ausbildung zu zahlen, wenn diese als in engem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehende Weiterbildung anzusehen sei oder von vornherein angestrebt war. Dazu käme der Fall, das eine weiterbildungserfordernde Begabung kenntlich werde.

Zu letztgenannten Fällen sei der Werdegang Abitur-Lehre-Studium zu zählen, sofern Lehre und Studium in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang stünden. Der Studienentschluss könne auch während der Ausbildung gefasst werden.

Der Anspruch aus § 1610 Abs. 2 BGB setze Gegenseitigkeit voraus. Mit dem Unterhaltsanspruch des Kindes korrespondiere die Pflicht zur zielstrebigen Verfolgung der Ausbildung. Leichtes Versagen des Kindes sei aber nach § 242 BGB hinzunehmen.

Es gebe keine festen Altersgrenze für die Aufnahme einer Ausbildung, ab der der Unterhaltsanspruch entfalle. Daher sei maßgeblich bis wann es den Eltern unter Berücksichtigung aller Umstände die Leistung von Ausbildungsunterhalt noch zumutbar sei. Dabei zähle die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sowie das Vertrauen oder Nicht-Vertrauen der Eltern darauf, dass das Kind eine weiter Ausbildungsstufe anstrebt. Die Elternverantwortung trete grundsätzlich mit zunehmendem Alter und zunehmender Eigenständigkeit des Kindes zurück. Davon gehe auch der Gesetzgeber beispielsweise in § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 BAföG aus (Ausschluss des Elterneinkommens nach dreijähriger Berufsausbildung und dreijähriger Berufsausübung).

Die Prüfung der Zumutbarkeit gewinne in Abitur-Lehre-Studium-Fällen an Gewicht, da die Eltern hierdurch wesentlich längerfristig belastet seien. Eine Pflicht sich mit dem Unterhaltspflichtigen über den Ausbildungsplan abzustimmen ergebe sich aus § 1610 Abs. 2 BGB nicht. Es könne der Zumutbarkeit allerdings entgegenstehen, wenn der Verpflichtete erst zu einer Zeit von seiner Pflicht erfahre, in der er nicht mehr mit weiteren Ausbildungskosten rechnen müsse.

Bedeutungsvoll seien hier Zeiträume in denen steuerliche Erleichterungen, Kindergeld, etc. aufgrund von fortgeschrittenem Kindesalter wegfallen. Dazu kämen vorangegangene Unterstützungen des Kindes hinsichtlich einer früheren Berufsausbildung, sowie in gerechtfertigter Erwartung eines Ausbildungsabschlusses getroffene finanzielle Belastungen und sonstige Verhältnisse (Alter, Lebensplanung) der Eltern.

Das Medizinstudium sei aufgrund der Abiturnote nicht von vornherein unangemessen. Eine sachliche Nähe zwischen Ausbildung und Studium bestehe ebenfalls. Auch der zeitliche Zusammenhang sei gewahrt worden. Die Tochter habe sich plangemäß durchgängig für das Medizinstudium beworben. Mit der Aufnahme der Berufstätigkeit sei sie ihrer Pflicht gerecht geworden bis zum Ausbildungsbeginn ihren Unterhalt selbst zu bestreiten. Die verstrichene Zeit zwischen Lehre und Studium sei dem Kind auch nicht zuzurechnen.

Zwar habe die Tochter sich nicht beim direkten Auswahlverfahren der Universitäten teilgenommen oder bei Auslandsstudienplätzen beworben, diese eventuellen Obliegenheitsverletzungen seien aber erst im Rechtsbeschwerdeverfahren vorgetragen worden und damit nicht zu berücksichtigen.

In der Zumutbarkeitsprüfung wirke sich für den Antragsgegner negativ aus, dass er während der Lehrzeit nicht für den Unterhalt aufkommen musste.

Es wirke sich allerdings für ihn positiv aus, dass seine Tochter bei Beginn des Studiums das 26. Lebensjahr fast vollendet hatte. Sie war damit kindergeldrechtlich nicht mehr als Kind einzustufen. Eltern müssten in diesem Alter nicht mehr mit der Aufnahme eines Studiums rechnen. Zudem habe der Antragsgegner finanzielle Dispositionen getroffen (Eigenheimkredit, Konsumentenkredite), die ihn finanziell einschränkten. Es käme insbesondere nicht darauf an, ob hierdurch die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit im Sinne des § 1603 Abs. 1 BGB eingeschränkt sei. Vielmehr stelle sich die Frage, ob der Elternteil sich im berechtigten Vertrauen auf die entfallene Unterhaltspflicht finanziell gebunden und sein Einkommen somit verringert habe. Das sei hier der Fall, da der Vater auf seine Erkundigung hin keine Information über den Ausbildungsplan der Tochter erhalten habe. Ein Vertrauen auf die entfallene Unterhaltspflicht sei gegeben, damit stehe die Unzumutbarkeit fest.

Auswertung/ Empfehlung

Der BGH betont in seinem Beschluss die Wichtigkeit des Vertrauensschutzes im Unterhaltsrecht. Bezüglich der Zumutbarkeits- bzw. Unzumutbarkeitsprüfung ergeben sich aus dem Beschluss wichtige Anhaltspunkte für die Fallbearbeitung. Allerdings statuiert der BGH nur Leitlinien und fordert stets eine Einzelfallprüfung.

Unzumutbarkeit ist gegeben, wenn ein Vertrauen auf den Wegfall der Unterhaltspflichtigkeit besteht.

Punkte sind hier:

  • das Kindesalter (Anhaltspunkte: steuerrechtliche Regelungen),
  • ein fehlendes Wissen über den Ausbildungsplan,
  • weitere Umstände (Alter, Lebensplanung des Elternteils - z.B. Pflegebedarf)

und darauf aufbauend

  • Finanzielle Dispositionen (Dauerbelastungen wie Kredite).

Für den Unterhaltsberechtigten empfiehlt es sich den Unterhaltsverpflichteten über den eigenen Ausbildungsplan zu unterrichten. Auch ein erst in der Lehre aufkommender Studienwunsch ist der Berücksichtigung fähig. Zu beachten bleibt stets die Adäquanz der Ausbildung (passend zum Kind), die Nähe von Lehre und Studium (zeitlich, sachlich) und die finanzielle Leistungsfähigkeit des Verpflichteten. Ein Abstimmen mit dem Elternteil ist nicht erforderlich.

Für den Unterhaltsverpflichteten empfiehlt es sich den Unterhaltsberechtigten über eventuelle Ausbildungspläne zu befragen. Die Finanzierung unpassender Berufsausbildung ist nicht gefordert. Soll die Zumutbarkeit bestritten werden so sind die oben genannten Punkte zu sammeln und vorzutragen.

Gerda Trautmann-Dadnia, Fachanwältin für Familienrecht

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