BGH: Urteil vom 16. 12. 2008 - VI ZR 170/07
Entscheidungserhebliche Normen: § 823 Abs. 1 BGB, § 1 ProdHaftG
Hintergrund
Die Klägerin war eine gesetzliche Pflegekasse. Die Beklagte Herstellerin von Pflegebetten. Diese elektrisch verstellbaren Betten wurden versicherten Pflegebedürftigen zur ambulanten Pflege von verschiedenen Kassen zur Verfügung gestellt.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte informierte seit Mai 2000 die zuständigen obersten Landesbehörden über Mängel der Betten. Einerseits stellte es die Gefahr von Bränden durch den elektrischen Antrieb und andererseits die Gefahr von Einklemmungen durch die Seitengitter fest. Verletzungen und Gesundheitsschädigungen traten bei den Kunden nicht auf.
Am 22.05.2001 wurde u.a. die Klägerin über die Sicherheitsrisiken informiert und aufgefordert den eigenen Bestand zu prüfen und ggf. nachzurüsten.
Am 27.06.2001 wandte sich die Beklagte mit einem Angebot der mängelbehebenden Nachrüstung an alle Kunden für 350 bis 400 DM pro Nachrüstsatz.
Am 29.08.2001 wies die Klägerin die Beklagte darauf hin, dass die Kosten für Nachrüstung oder Neubeschaffung von der Beklagten zu tragen seien. Später kündigte sie an, selbst für die Mängelbeseitigung zu sorgen und der Beklagten die Kosten in Rechnung zu stellen. Die Beklagte reagierte darauf nicht.
Die Klägerin verlangte Erstattung der ihr entstandenen Kosten.
In den Vorinstanzen blieb die Klage ohne Erfolg.
Entscheidung
Der BGH stützte die Rechtsprechung des Berufungsgerichtes. Er verneinte insbesondere einen Anspruch auf die Erstattung der Nachrüstkosten nach § 823 Abs. 1 BGB (Gefahrabwendungspflicht des Herstellers).
Begründung
Die Sicherungspflichten des Herstellers endeten nicht mit Inverkehrbringen des Produktes. Er müsse alles Zumutbare tun, um Gefahren seines Produktes abzuwenden.
Ihn treffe eine Pflicht sich über unbekannte schädliche Eigenschaften und gefährliche Verwendungsfolgen zu informieren. Besonders ergebe sich daraus die Pflicht zur Warnung vor Produktgefahren. Inhalt, Umfang und Zeitpunkt dieser bestimmten sich nach dem gefährdeten Rechtsgut und der Gefährdungslage.
Eine Beschränkung der Sicherungspflicht auf Warnungen bestehe aber nicht. Mehr sei erforderlich, wenn Grund zur Annahme bestehe, dass eine Warnung den Produktnutzern eine Einschätzung der Gefahr und eine entsprechende Reaktion nicht ausreichend ermögliche. Weitere Handlungen sind auch erforderlich wenn trotz Gefahrkenntnis der Benutzer ein (bewusstes) Hinwegsetzen über die Warnung und dadurch eine Gefährdung Dritter wahrscheinlich ist.
Es stelle sich nun die Frage der Erforderlichkeit einer Produktnachrüstung zur Gefahrenabwehr. Zu berücksichtigen sei insbesondere, dass der deliktsrechtliche Schutz aus § 823 Abs. 1 BGB allein das Integritätsinteresse und nicht das Äquivalenzinteresse erfasse. Die Weite der Gefahrabwendungspflichten sei im Einzelfall festzustellen.
Vielfach könne es auch bei erheblichen Gefahren genügen, dass der Hersteller auf die Notwendigkeit einer Nachrüstung/ Reparatur hinweist und seine Hilfe zur Umsetzung erforderlicher Maßnahmen anbietet. Eine Aufforderung das Produkt nicht zu benutzen oder stillzulegen könne in Betracht kommen und ausreichen.
Allerdings dürfe der Hersteller nicht abwarten bis erhebliche Schadensfälle eingetreten seien. Eine pflichtenbegründende Gefahr müsse auch nicht konkret greifbar sein.
Die Erforderlichkeit der Nachrüstung sei hier in der Gesamtschau zu verneinen. Die Beklagte habe ausreichend über die Gefahren und deren Eindämmung informiert. Die Klägerin traf außerdem selbst die Pflicht zum Schutze der Endkunden. Dabei war es auch nicht zu befürchten, dass die Klägerin dieser Pflicht nicht nachkomme.
Insbesondere sei die Schutzpflicht ebenfalls inhaltlich nicht auf Nachrüstung der Betten gerichtet. Im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB sei kein mangelfreies, benutzbares Bett geschuldet (= Äquivalenzinteresse). Es sei hier nur der Schutz von Gefahren für Leib und Leben zu besorgen (= Integritätsinteresse).
Obwohl die Mängel schon bei Inverkehrbringen des Produktes bestanden (Konstruktionsfehler, Fertigungsfehler) sei der Hersteller stets nur zur Bekämpfung der vom Produkt ausgehenden Gefahren verpflichtet.
Auswertung/ Empfehlung
Der BGH trennt scharf und gesetzessystematisch richtig zwischen deliktrechtlichen und vertraglichen Pflichten. Er verdeutlicht die Unterscheidung zwischen Äquivalenz-/ Nutzungsinteresse und dem Integritätsinteresse.
Der Produkthersteller muss also im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB nur für eingetretene (Integritäts-)Schäden und die Abwehr möglicher entsprechender Schäden aufkommen.
Wichtig ist zunächst die genaue Produktbeobachtung:
- Treten (bisher unbekannte) schädliche Eigenschaften auf?
- Entstehen negative Folgen bei der Produktverwendung (auch nicht ganz fernliegende Fehlverwendung)?
Bei Erkennen einer Gefahr ist ein verhältnismäßiges Vorgehen gefragt. Das ist von folgenden Faktoren abhängig:
- Wie wichtig ist das potentiell beeinträchtigte Rechtsgut?
- Wie konkret (wahrscheinlich) ist die Gefahr?
- Wie groß ist der mögliche Schaden?
Der Zeitpunkt, der Inhalt und der Umfang einer Warnung und ggf. weiteres notwendiges Vorgehen ergibt sich aus genannten Faktoren.
Was für die Abwehr erforderlich ist kann jedoch nicht generell, sondern nur im konkreten Fall festgestellt werden. Eine umfassende Einschätzung der Gefahren und deren Abwehrmöglichkeiten ist essentiell. Hierbei muss beachtet werden, ob sich die Benutzer (wissentlich) über Warnungen hinwegsetzen könnten.
Tim Bäuerle, LL.M (Edinburgh), Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht